In meinem Adventskalender plaudere ich jeden Tag – bis zum 24. Dezember – aus dem Nähkästchen und erzähle euch von der Entstehung von »Seele an Seele«, meinem Debütroman.
»Kill your darlings!«, lautet ein bekannter Rat an Schriftsteller. Damit ist gemeint, dass man sich von Lieblingspassagen seines Manuskriptes zu trennen hat, wenn sie für die Geschichte nicht relevant sind.
Glücklicherweise gibt es jedoch Lieblingsstellen, -szenen und -kapitel, die sich ins veröffentliche Buch retten, weil man sie gut findet und sie für den Plot bedeutend sind.
Eigentlich wollte ich hier einen solchen Liebling vorstellen – um festzustellen, dass es mir nicht gelingen möchte, mich zu entscheiden. Sehr ans Herz gewachsen ist mir die Szene, in der Viola zum ersten Mal auf Andrian trifft:
Zögerlich trete ich näher. Mehrmals muss ich schlucken, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. »Haben Sie sich wehgetan?« Ich leuchte dem Mann ins Gesicht. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Kurzes, schwarzes Haar, hohe Wangenknochen, eine vorstehende Nase, ein breites Kinn. Ordentlich. Wie ein verwahrloster Obdachloser sieht er nicht aus. Die schmalen Lippen murmeln Unverständliches.
Ich lasse den Lichtkegel über den Rest des Fremden schweifen. Er macht einen ziemlich muskulösen Eindruck und steckt in eng anliegenden, schwarzen Klamotten – also doch ein Sportfanatiker, der sich beim Joggen überschätzt hat. […]
Aber auch die Szene, in der wir Tebe von Asturia, Andrians Mutter, kennenlernen, mag ich besonders:
Eine hochgewachsene Frau hat sich hinter uns aufgebaut und die Hände in die Hüften gestemmt. Sie trägt ein rotes, wallendes Kleid, ihr Gesicht ist mit weißer Farbe zugekleistert, die schmalen, zusammengepressten Lippen sind blutrot bepinselt. Ihr schwarzes Haar ist zu einer opulenten Amy-Winehouse-Frisur aufgetürmt.
Sie sieht aus wie eine schlechte Faschingsverkleidung.
»Was fällt dir ein?«, fragt sie Andrian anklagend. Als sich ihre eiskalten, blauen Augen in meine bohren, wird mir mulmig. Hastig rutsche ich von Andrian herunter – diesmal hält er mich nicht davon ab.
»Was hat sie hier zu suchen?«, herrscht sie ihn an und zeigt mit ihrem knorrigen, von allerlei Ringen beschwerten Zeigefinger auf mich. »Ich verlange eine Erklärung!«
[…]
Und die Traumsequenz, in der Violas Unterbewusstsein ihre Angst verarbeitet, verlassen worden zu sein?
Jeder, der mir wichtig ist, verschwindet aus meinem Leben. Und ich kann nichts dagegen tun.
Ich bin mutterseelenallein, treibe in einem Meer aus Tränen, werde von Sturm und Wellen hin- und hergeworfen wie eine willenlose Porzellanpuppe, die ein unachtsames Kind ins Meer hat fallenlassen.
Möwen kreischen über mir, Wasser läuft mir in den Hals und in die Nase. Ich verschlucke mich, ringe nach Atem. Verzweifelt strample ich gegen die Macht an, die mich auf den kalten Grund ziehen möchte. Während ich gegen sie ankämpfe, weiß ich, dass ich keine Chance habe. Dass es keine Hoffnung gibt. Dass ich bereits verloren habe.
Plötzlich greift etwas nach meiner Hand, bringt Wärme zurück in meine Fingerspitzen. Andrian ist zurück! Ich werde nicht verschwinden. Niemals. Wir lächeln uns an und dann … dann taucht er ab. Nein, tu das nicht! Meine Verzweiflung ist größer als je zuvor. Ohne darüber nachzudenken, folge ich ihm nach. Unter Wasser ist es so unvorstellbar dunkel, dass ich glaube, schlagartig erblindet zu sein – und doch bekomme ich ihn am Handgelenk zu fassen. Im nächsten Moment werden wir an Land gespült. […]
So könnte das noch ewig weitergehen … 😉 Ich kann mich einfach nicht entscheiden, und den einen Darling auswählen. Das geht nicht!
Und irgendwie gehört ja sowieso alles zusammen. 😀
Liebe Grüße
Hanna